Wo warst Du?
“Ich trage Indien in meinem Herzen. Ein Stück meines Herzens habe ich in Indien zurück gelassen. Ich glaube, dass ist ein fairer Deal.”
Shanti Shanti
Wo warst Du, als sich das Corona-Virus langsam aber sicher ausbreitete und die Medien sowie die Angst der Menschen allmählich in Beschlag nahm? Ich weiß noch genau, wo ich war: ich saß mit meinen Freunden Varuna und Nicholas beim Frühstück in unserer Unterkunft auf den Little Andamanen, die letzte südliche Insel der Andamamen, bevor die Nicobaren beginnen. Die Inselgruppen sind ein Inselstaat, zu Indien gehörend, und die Uhren ticken etwas anders als im Rest der Welt.
Wir saßen dort mit unseren Gastgebern beim Frühstück
und von Tag zu Tag wurden die Nachrichten deutlicher und die Stimmung ernster, bis Nicholas anfing Panik zu schieben und damit auch Varuna ansteckte. Die beiden würden sowieso in spätestens 2 Wochen wieder nach Spanien und Kanada fliegen, aber mein Plan ging noch weit über die nächsten 2 Wochen hinaus. Ich blieb ruhig und stellte mir vor, dass ich wohl gerade an einem der sichersten Orte in ganz Südostasien bin. Ich hatte die Wochen zuvor schon 2 Flüge aufs indische Festland gecancelt mit der Begründung die Krise, die sich gerade in Europa, besonders Italien und Spanien, ausbreitete, lieber von einem sicheren und schöneren Ort aus zu beobachten.
Die Panik um das Virus
nahm in meiner unmittelbaren Umgebung recht schnell stetig zu. Daher beschloss ich, vor dieser Angst in den Norden der Andamanen zu „flüchten“, oder eigentlich eher dieser Angst durch eine Flucht zu trotzen.
Meine Entscheidung
Die Anreise war nicht ganz bequem und ich war glücklich, als ich endlich in meiner Unterkunft ankam. Auch hier zeigte sich die Situation vom Virus angefressen: ich war neben 2 indischen Paaren die einzige Touristin und zudem hatten alle Sehenswürdigkeiten (wie z.B. der Aufstieg zum Saddle Peak, dem höchsten Berg der Andamanen) geschlossen.
Trotzdem genoss ich die Zeit intensiv
und musste mir langsam bewusst werden, dass ich wohl möglich auch bald die Heimreise antreten müsse. Indes erreichten mich Nachrichten, dass die Staatsgrenzen sowie Unterkünfte einiger indischer Bundesstaaten für Touris geschlossen werden und Modi ab dem 22.03. eine Flugsperre für alle ankommenden und ausgehenden internationalen Flüge verhing. Zudem wurde für den 23.03. eine landesweite freiwillige Ausgangssperre verhängt. Meine Gastgeber mussten meine Ankunft an die nächstgelegene Polizeistation berichten und ich fühlte mich so nicht mehr wirklich willkommen, so schön die Umgebung auch war. Kurzum: ich fühlte mich dazu gedrängt das Land zu verlassen und somit schon 2.5 Monate vor meiner geplanten Heimkehr in mein Heimatland zu fliegen. In mein Heimatland fliegen. Ich werde später noch dazu kommen, was das nun für mich bedeutet.
Nachdem ich einen Rückflug über London von Delhi
aus für den 30.03. buchte, machte ich mich daran, auch gleich einen Flug von Port Blair nach Delhi für den 29.03. zu buchen. Mein Gastgeber machte mich mit dem Busticketverkäufer bekannt, der mir sagte, dass am nächsten Morgen, dem 23.03., ein Bus zurück nach Port Blair geht. Es war ein wenig umständlich überhaupt erst zur Busstation zu gelangen, aber ich schaffte es dann doch an diesem surrealen Morgen. Und ich genoss eine vorerst letzte Fahrt auf dem Motorrad durch die grüne, pflanzenüberwucherte Gegend von Diglipur, die an diesem Morgen in einem zarten sanften Nebel lag.
Diese Motorradfahrt war wie die Pause zwischen 2 Atemzügen.
Die Welt steht gefühlt still und Du hast Zeit, die Situation und Deine Reaktionen zu dieser Situation zu beobachten. Ich war in vollkommener Stille und fühlte selten so eine Freiheit.
“Ich genoss eine vorerst letzte Fahrt auf dem Motorrad durch die grüne, pflanzenüberwucherte Gegend von Diglipur, die an diesem Morgen in einem zarten sanften Nebel lag. Diese Motorradfahrt war wie die Pause zwischen 2 Atemzügen. Die Welt steht gefühlt still und Du hast Zeit, die Situation und Deine Reaktionen zu dieser Situation zu beobachten. Ich war in vollkommener Stille und fühlte selten so eine Freiheit.”
Step by Step
Der Bus kam abends in Port Blair an und ich ging zu Fuß zu meinem Gastgeber Nirman, der mir schon ein Zimmer im LaLaJi Bay Hotel hergerichtet hatte. Wir sprachen miteinander und bevor ich mich richtig eingrooven konnte, erhielt ich auch schon die nächste Hiobs-Botschaft: mein Kumpel aus Mumbai sagte mir, dass laut eines befreundeten Piloten ab dem 25.03. alle Inlandsflüge auf unbestimmte Zeit gestrichen werden. Ich solle heute, am 23.03., am besten noch nach Delhi fliegen – nur war es schon 20 Uhr! Also buchte ich einen Flug am nächsten Tag via Chennai nach Delhi. Ich sollte am 24.03. abends in Delhi ankommen. Es fiel mir alles andere als leicht mich mit der Vorstellung anzufreunden noch 6 Tage in Delhi zu verbringen, bevor ich dann im Flieger nach Europa sitzen sollte.
Es kam natürlich alles anders:
der Flieger nach London wurde gecancelt und ebenfalls, was mir viel schlimmer erschien, der Flieger nach Delhi von Chennai aus. In Chennai telefonierte ich mich einer Dame der Deutschen Botschaft in Delhi. Sie sagte mir, dass ich am besten in Chennai bleiben solle und nicht auf der Liste für die deutschen Staatsbürger stehe, die am übernächsten Tag, dem 26.03. zurück nach Deutschland fliegen sollten. (Hier eine kurze Info: Ich hatte mich 2 Tage zuvor per Online-Registrierung auf die „Elephand-Liste“ des Auswärtigen Amtes setzen lassen. Jeder, der auf dieser Liste registriert war, erhielt eine E‑Mail mit Infos zum Sammlungsort und dem wagen Zeitrahmen. Wann genau der Flieger nach Deutschland ging, erfuhr ich aber erst, als ich in der Deutschen Botschaft in Delhi angekommen war.)
…Mir rutschte daraufhin das Herz in die Hose!
Glücklicherweise war ich nicht alleine: Kate und Simone aus Italien sowie Markus aus Kalifornien durchstanden diese Zeit mit mir zusammen. Wären die 3 nicht gewesen, hätte ich vielleicht nicht so beherzt mit dem Airline-Personal gesprochen, welches dann doch noch einen Flug nach Delhi organisierte. Immerhin war der komplette Flieger voll und ich sprach mit meinen Freunden Nirman und Varuna, die mir sagten, dass einige Leute, die einen Tag zuvor nach Chennai von Port Blair aus flogen, nicht mehr nach Delhi kamen. Die Gründe dafür blieben mir schleierhaft.
Als wir dann kurz vor Mitternacht in Delhi ankamen, bestaunte ich das Schimmern der Lichter von oben. Es waren so wenig Autos aus dem Flieger erkennbar, dass ich sie zählen konnte.
Ich wurde mir in dem Moment bewusst, dass es wohl eine ´once in a lifetime experience´ sein muss, derart wenige Autos auf den Straßen in Delhi zu sehen.
Die Unterkunft, die ich in Flughafennähe gebucht hatte, stornierte leider meine Unterkunft. Das gleiche galt für die Unterkunft, welche mir zuvor von der Botschaft empfohlen wurde. Das Marriott Hotel, welches mir ebenfalls von der Deutschen Botschaft empfohlen wurde, nahm keine Gäste mehr auf und verwies mich an das Hyatt Regency Hotel, welches mitten in der City lag. Da weder Taxen, Rikshas oder Hoteltransfer-Busse auf den Straßen fuhren durften, erklärt sich von selbst, dass wir dort nicht unterkommen konnten. Außerdem und was sehr bezeichnend war, legte der Rezeptionist des Hyatt Regency den Telefonhörer auf, als ich ihm sagte, dass ich mit einem Paar aus Italien und einem Freund aus Kalifornien reise.
Der einzige Bus, der noch fuhr, war der Shuttlebus vom Flughafen zur Aerocity,
in welcher einige überteuerte Hotels liegen. Da dies unsere einzige Chance war, fiel uns die Entscheidung nicht schwer. Wir kamen im Ibis Hotel unter und ich teilte mir ein Zimmer mit Markus.
“Als wir dann kurz vor Mitternacht in Delhi ankamen, bestaunte ich das Schimmern der Lichter von oben. Es waren so wenig Autos aus dem Flieger erkennbar, dass ich sie zählen konnte. Ich wurde mir in dem Moment bewusst, dass es wohl eine ´once in a lifetime experience´ sein muss, derart wenige Autos auf den Straßen in Delhi zu sehen.”
Ein paar ruhige Momente
Als ich um 3 Uhr morgens ins Bett ging, hoffte ich, bis mindestens 9 Uhr durchschlafen zu können. Ich schlief zwar tief uns fest, wachte aber schon um 7 Uhr morgens durch das panische Klopfen eines Franzosen an unserer Tür wieder auf. So langsam drehten alle Leute durch! Er fragte in Französisch nach dem Frühstücksplan und ich erklärte ihm in gebrochenem Französisch, dass ich den Plan gleich wiederbekommen müsse, da wir nur einen haben. Er war überglücklich etwas Französisch mit mir reden zu können und bedankte sich herzlich. Es war wirklich verrückt mit ansehen zu müssen, wie panisch die Menschen reagierten! Ich sah zuvor so viel Elend in Indien und schaute in die Augen der Menschen, die nach etwas Geld bettelten, um ihre Kinder und sich selbst mit Nahrung und Wasser und vielleicht, wenn es ausreichte, mit Bildung zu versorgen.
Die Menschen um mich herum ließen die Angst von ihren Gedanken Besitz ergreifen.
Angst davor, nicht mehr nach Hause zu kommen, Angst davor, eingesperrt zu sein in einem Hotelzimmer, für das sie 50 Euro pro Nacht ausgeben müssen. Ich möchte diese Angst nicht herunterspielen. Auch ich als Backpackerin, die normalerweise 5–10 Euro pro Nacht für ein Bett ausgibt, dachte daran, wie blöd es wäre, noch ein paar Nächte in dem teuren kleinen Zimmer auszuharren und nicht wissend, wann ich nach Hause kommen sollte. Verglichen mit den Zuständen, in denen viele Inderinnen und Inder der armen Schichten leben, ist die Situation ziemlich lächerlich. Ich muss ständig daran denken, dass mein Freund Kailash aus Kerala mit nur 2000 Rupien einer mittellosen Witwe aus Kalkutta geholfen hat, ihr eigenes Business aufzubauen, indem sie den Yoghurt, der allen so köstlich schmeckt, in ihrer Nachbarschaft verkauft. Ich werde darüber noch länger nachdenken und mich inspirieren lassen, aber zunächst möchte ich diesen Bericht weiterschreiben 😉
“Verglichen mit den Zuständen, in denen viele Inderinnen und Inder der armen Schichten leben, ist die Situation ziemlich lächerlich. ”
Selbst ist die Frau…
Als ich am nächsten Morgen also von dem Klopfen wach wurde, konnte ich nicht mehr einschlafen. Ich war einfach zu aufgewühlt und hatte das Gefühl, etwas dagegen tun zu müssen. Da ich an diesem Morgen noch nicht wusste, wann ich zurück nach Deutschland fliegen kann und wo der Sammeltreffpunkt ist, rief ich nochmals die Deutsche Botschaft an. Dort beglückwünschte mich der Mann am anderen Ende erst einmal dazu, den letzten Flieger nach Delhi bekommen zu haben. Anstelle die Glückwünsche entgegen zu nehmen, wollte ich wissen, wo ich hinkommen sollte. Er beantwortete diese Frage und verwies mich, zum Hyatt Regency Hotel bis spätestens 14 Uhr zu kommen. Wir legten auf und ich war erleichtert. Doch diese Erleichterung hielt nur für einen kurzen Moment an, da ich dann erst checkte, wo das Hotel lag – in der City und zu Fuß 3 Stunden weg von meinem Hotel! Ich rief das Hotel an und man sagte mir, dass kein Transfer organisiert werden könne.
Daher rief ich nochmals die Botschaft an.
Dort sagte mir dieses Mal eine Dame, dass noch 10% der öffentlichen Busse fahren würden und ich es so versuchen könne. Ich entgegnete ihr, dass ich nur 5 Fussminuten vom Mariott Hotel, dem ersten Treffpunkt für Ausreise-Willige, entfernt wohne und dort sonst mal hingehen würde. Wahrscheinlich sei ich dafür schon zu spät dran, aber ich könne es einmal versuchen. Gesagt, getan! Ich kam am Haupteingang an und sah einen Berg von Stühlen, die den Eingang verbarrikadiert ließen. Am Eingang klebte ein Zettel in Deutsch „Bitte gehen Sie zum Hyatt Regency Hotel“. Daraufhin sprach ich mit den Security Leuten, die mir sagten, ich solle einen Eingang weiter gehen. Als ich dort ankam erblickte ich bereits 3 Reisebusse, eine ca 15 m lange Schlange von Menschen, die ihre Koffer in die Busse hieften und einige Mitarbeiter der Deutschen Botschaft (unverkennbar mit Deutschland-Flagge auf den Anoraks). Ich sprach mit einem Mitarbeiter und das, was er sagte, war das Schönste, was er mir in dieser Situation hätte sagen können: Pack Deine Koffer und komm so schnell wie möglich zurück!
“Ich sprach mit einem Mitarbeiter der Deutschen Botschaft und das, was er sagte, war das Schönste, was er mir in dieser Situation hätte sagen können: Pack Deine Koffer und komm so schnell wie möglich zurück!”
Dankbarkeit
Ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl: Erleichterung, Glück und Dankbarkeit! Vor allem Dankbarkeit! Meine gesamte Indien-Reise war von Dankbarkeit erfüllt und nun, am unerwarteten Ende meiner Reise, bekam ich dieses Gefühl noch einmal in seiner puresten Form zu spüren! Es ist paradox, dass ich genau durch eben das abrupte Ende meiner Reise in Indien eines der schönsten Gefühle während meiner Reise noch einmal in seiner authentischsten Form spüren durfte. Mein geliebtes Indien!
Ich schwebte auf dem Weg zurück zum Hotel
und erzählte meinen Freunden, dass ich mit dem Flieger nach Hause fliegen würde. Sie freuten sich sehr für mich und wir verabschiedeten uns. Ich checkte im Bus ein, bekam eine Maske und wir fuhren zur Deutschen Botschaft. Auch dort checkte ich nach einiger Zeit ein und entspannte mich mit den anderen Gestrandeten bei Tee, Café, Obst und Keksen. Sobald ich in der Botschaft war, fühlte ich mich sicher und entspannte mich. (Hier liest du einen Artikel der FAZ dazu) Neben deutschen Staatbürgern wurden alle Europäer aufgenommen, was mich sehr freute! Ich wusste, wie sich die Menschen fühlten, die unfreiwillig an einem Ort gehalten wurden und war glücklich darüber, dass auch sie bald nach Hause fliegen konnten.
Ich sah übrigens zum ersten Mal blauen Himmel in Delhi
und musste daran denken, wie ich vor gerade einmal 3.5 Monaten zu Pranav, meinem Kumpel aus Delhi, sagte, wie sehr ich es mir für die Einwohner Delhis wünsche, dass der gesamte Smog verschwindet und sie den blauen Himmel tagsüber und die Sterne nachts sehen können. Ich hätte es nie für möglich gehalten, dass dies in 3.5 Monaten passieren würde! Und ich freue mich sehr darüber – trotz der Umstände!
Ich verbrachte den gesamten Tag in dem Garten der Botschaft, las, schrieb, meditierte
und beobachtete die Menschen. Am Abend ging es mit einem Bus zum Flughafen, wo uns zwar gespenstische Leere erwartete, aber auch die Gewissheit, dass es nun nicht mehr lange dauern kann in den Flieger nach Frankfurt zu steigen und sicher in Deutschland anzukommen. Ich nahm die letzten Stunden in Indien am Flughafen sehr bewusst wahr. Ich verabschiedete mich und merkte dabei, dass ich bereits auf den Andamanen während meiner letzten Motorrad-Tour „Auf Wiedersehen!“ gesagt hatte.
Ich trage Indien in meinem Herzen. Ein Stück meines Herzens habe ich in Indien zurück gelassen. Ich glaube, dass ist ein fairer Deal.
Innerhalb von weniger als 72 Stunden bin ich in dieser aufreibenden Situation von Port Blair, den Andamanen, nach Hamburg gekommen. Ich denke, ich kann mich glücklich schätzen, während der Zeiten in Deutschland zu sein. Dennoch — es fühlt sich nicht mehr wie zu Hause an.
“Ich erinnere mich noch genau an dieses Gefühl: Erleichterung, Glück und Dankbarkeit! Vor allem Dankbarkeit! Meine gesamte Indien-Reise war von Dankbarkeit erfüllt und nun, am unerwarteten Ende meiner Reise, bekam ich dieses Gefühl noch einmal in seiner puresten Form zu spüren! Es ist paradox, dass ich genau durch eben das abrupte Ende meiner Reise in Indien eines der schönsten Gefühle während meiner Reise noch einmal in seiner authentischsten Form spüren durfte. Mein geliebtes Indien!”